Sommerinterview-Reihe

Kurdistan Aktuell 

Die Hitze des Sommers ist auch auf die politische Lage rund um Kurdistan zu übertragen. Es droht eine dritte türkische Besatzung in Rojava / Nordsyrien, die türkische Armee versucht, ihren Wirkradius auch in der Kurdistan Region des Irak weiter auszubauen und die Repressionen gegen Oppositionelle in der Türkei, allen voran gegen die HDP , haben exorbitant zugenommen. Diese Kriege und Konflikte affektieren nicht nur KurdInnen. So sind zum Beispiel auch Glaubensgemeinschaften wie AlevitInnen, ChristInnen und EzidInnen existentiell bedroht. In unserer Sommerinterview-Reihe ‚Kurdistan Aktuell‘ möchten wir gemeinsam mit ExpertInnen die Geschehnisse rund um Kurdistan diskutieren.

Die Interviews werden in Form von Live-Talks auf unserem Instagram Kanal geführt. Sie sind auf unseren Social media Kanälen Facebook, Instagram und Twitter abzurufen. Zudem transkribieren wir die Interviews. Diese werden zunächst einzeln, später als PDF Broschüre veröffentlicht. 

Das erste Interview fand am 3. August 2022 statt. Am 03.08.2014 fiel der Islamische Staat in Şengal ein, der Genozid an den EzidInnen begann. Über die Lage der EzidInnen und die Situation in Şengal haben wir mit Yılmaz Pêşkevin Kaba, Moderator bei Çira TV gesprochen. 

Einführungsfragen, die nur mit Ja/Nein zu beantworten sind

– Ist die Existenz der Eziden im Mittleren Osten gesichert? Nein

– Braucht Şengal einen autonomen Status? Ja

– Ist die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, abgesehen von der türkischen Okkupation, ein sicherer Hafen für EzidInnen? Ja

– Reicht die Anerkennung des Ezidengenozids auf Parlamentsebene in Deutschland aus? Nein

– Muss der Internationale Strafgerichtshof tätig werden? Ja

Wie sieht es derzeit für EzidInnen im Mittleren Osten, insbesondere in Şengal aus?

Vielen Dank für die Einladung und die einführenden Worte. Ich bin der Einladung gern gefolgt, weil ich seit vielen Jahren die Arbeit von Kurd-Akad verfolge und sie auch sehr schätze. Sehr effektive und nachhaltige Arbeit, vor allem auch für die Aufklärung und die Öffentlichkeitsarbeit. Ich konnte leider nur mit ja und nein antworten, ich hätte natürlich gerne mehr zu den Fragen erzählt, aber ich komme ja noch im Laufe des gesprächs dazu.  Zu den EzidInnen im Nahen Osten bzw. Mittleren Osten und natürlich auch in den Gebieten, in denen Sie hauptsächlich leben, kann man klar und deutlich sagen,  die Existenz ist alles andere als sicher, ganz im Gegenteil. Wenn man die aktuellen Ereignisse der letzten 8 Jahre, also heute zum Jahrestag auch nochmal verfolgt, gerade weil dieser Zeitraum auch vielen vor Augen ist, kann man klar und deutlich sagen, das sich für die Sicherheit der EzidInnen nicht viel getan hat. Ganz im Gegenteil mit dem Angriff von 2014 geht man davon aus, dass soviel Öffentlichkeit geschaffen wurde durch diesen Angriff, durch diesen Völkermord,  dass sich die Internationale Staatengemeinschaft noch intensiver einsetzt für die Sicherheit, dass sich auch die Regionalen Staaten für die EzidInnen einsetzen, aber dem ist nicht so, ganz im Gegenteil. Die Angriffe des türkischen Staates, die Drohnen gegen Persönlichkeiten, die dafür sorgen, dass die EzidInnen weiter dort leben und sich schützen können, dass sie dort etwas aufbauen trotz Genozid. Das führt dazu, dass die Organisierung der EzidInnen geschwächt wird,  und oft führt es dazu, dass die EzidInnen nicht in ihre Region zurückkehren können und immer wieder Ziel islamistischer und jihadistischer Gruppen werden, die sich durch die Angriffe des türkischen Staates beflügelt und motiviert fühlen, nochmal die EzidInnen anzugreifen und zu vollenden, was der Islamische Staat 2014 durchgeführt, aber nicht vollendet hat. 

Warum ist ein autonomer Status für Şengal essentiell? 

Absolut wichtig, gar keine Frage. Also die Erfahrungen aus den vergangenen Jahrzehnten haben einfach gezeigt, dass die EzidInnen, wenn sie sich auf die regionalen oder auch zentralen Regierungen, z.B. jetzt in dem Fall Zentralregierung Irak oder Regionalregierung, auf den Barzani Clan verlassen, sind sie verlassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Gerade heute haben auch viele über die sozialen Netzwerke die Videos und die Fotos geteilt, wie die Peshmerga Einheiten des Barzani Clans die EzidInnen im Stich gelassen haben. Sie sind regelrecht am hellichten Tag weggelaufen und haben zudem die EzidInnen, die Şengal einigermaßen verteidigen konnten, entwaffnet. Auch die Jahre nach den Genozid, nach dem Völkermord haben gezeigt, dass die politischen Absichten und die Eigeninteressen wichtiger sind als Menschenleben, vor allem wichtiger als die Existenz der EzidInnen. Deswegen ist die Autonomie für die EzidInnen absolut erforderlich und vor allem die einzige Möglichkeit, die Existenz der EzidInnen zu gewährleisten. Und sie sind ja dabei die EzidInnen, sie bauen sich etwas auf. Es ist ja nicht so, dass sie von Null anfangen müssen, sondern sie sind mittendrin im Aufbau der Selbstverwaltung. Sie haben Selbstverteidigungseinheiten, Frauenverteidigunseinheiten, die dort den Widerstand leisten, die auch maßgeblich im Kampf gegen den Islamischen Staat mit aktiv waren an forderster Front. Das muss international und auch regional unterstützt werden. Die EzidInnen brauchen ihre eigene Verwaltung und die Autonomie innerhalb der Staatsgrenzen des Iraks. Damit haben die EzidInnen kein Problem. Die Verfassung des Irak gibt dies auch her.

Der Petitionsausschuss des deutschen Bundestags hat dem Parlament die Anerkennung des Ezidengenozids empfohlen? Das Parlament wird im September endgültig abstimmen. Was bedeutet dies? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Bundesregierung?

Ein wichtiger Aspekt, vor allem mit der Tatsache, mit der Realität, dass andere Staaten den Genozid relativ schnell als solchen anerkannt haben. Das ist selbstverständlich sehr zu begrüßen. Deutschland hat sich damit schwer getan, die Bundesrepublik, die Bundesregierung. Es gibt definitiv viele Gründe dafür, auch politische Gründe. Die Anerkennung ist ohne Frage ein wichtiger Aspekt. Das unterstützen wir auch, das haben wir auch von Anfang an unterstützt, als die ezidische Community, die ezidische Gesellschaft, ezidische Organisationen, die auch bundesweit aktiv sind, sei es die Jugendorganisationen, die Frauenorganisationen, unsere kurdischen Geschwister haben das unterstützt. All diejenigen, die gesagt haben, wir unterstützen das, haben auch Unterschriften gesammelt. Aber diese Anerkennung alleine hat irgendwie nur einen Symbolcharakter. Wir brauchen keine Symbolpolitik. Wir brauchen klar und deutlich Taten. Was ich auch schon zu Beginn gesagt habe, die Gefahr, dass die EzidInnen auf der einen Seite wieder angegriffen werden militärisch und politisch und auf der anderen Seite die Fortführung des Genozids, der sog. weiße Genozid, d.h. die EzidInnen, die ihre Heimat verlassen haben, die hier in Europa verteilt sind. Die EzidInnen brauchen die Nähe zueinander, sie brauchen die Community, sie sind voneinander abhängig. Deswegen müssen dieser Anerkennung durch die Bundesregierung, die ja stattfindet, die ja nach der Sommerpause stattfindet, davon gehen wir sehr stark aus, müssen natürlich auch Taten folgen und Forderungen gestellt werden. Hier ist ganz wichtig, dass die FreundInnen der EzidInnen, aber vor allem die ezidischen Organisationen, egal welcher politischen, philosophischen oder ideologischen Ausrichtung, zusammenkommen und sich klare Gedanken machen, was sind unsere Forderungen. Hier geht es um die EzidInnen, das Ezidentum, die Existenz von Şengal, die eventuelle Rückkehr der EzidInnen, die nach Sengal zurück möchten. Die Geflüchtetencamps zum Beispiel, dass sie aufgelöst werden, dass die Menschen zurückkehren können. Denn das Leben in diesen Camps ist menschenverachtend. Es hat überhaupt nichts mehr mit irgendwie Solidarität oder humanitärer Hilfe zu tun. Ganz im Gegenteil, das ist ein Armutszeugnis für die gesamte Menschheit, wenn man die Menschen sieht, wie sie dort leben. Also das heißt im Großen und Ganzen der Anerkennung des Genozid, des Völkermord als solchen klar und deutlich auch Taten folgen wie z.B. die Aufarbeitung des Genozids, die Bestrafung der Täter, auch der Hintermänner und vor allem dann auch Wiederaufbau von Şengal, Infrastruktur und natürlich hier in Deutschland benötigen wir dringend, dringender denn je die Anerkennung der EzidInnen als eigenständige Glaubensgemeinschaft, als Körperschaft des öffentlichen Rechts und auch die Anerkennung der Muttersprache. Die Muttersprache Kurdisch, Kurmanci sprechen alle zu 99%. Die Muttersprache Kurdisch muss hier in Deutschland Anerkennung finden, weil sie ist ein wichtiger Bestandteil der Kultur der EzidInnen ist. Um diese Kultur zu schützen und zu verteidigen und auch ihnen die Möglichkeit der Existenz zu geben, werden wir auch weiterhin daran arbeiten. 

Warum greift die internationale Gerichtsbarkeit nicht? Welchen Einfluss haben Staaten wie die Türkei und Staatengemeinschaften wie die EU oder Bündnisse wie die NATO? In Şengal wurde ein Krankenhaus durch die Türkei zerstört, Totenstille. Der Angriff auf das Touristengebiet in Zakho schafft es auf die Agenda des UN-Sicherheitsrates, wenn auch weitgehend ohne den Täter beim Namen zu nennen. Wie ist das zu bewerten?

So wie es unseren kurdischen Geschwistern geht, so geht es auch den EzidInnen. Wenn sie eine gewisse politische Ausrichtung haben, wenn sie eine politische Ideologie haben. Die EzidInnen fordern Autonomie innerhalb des Irak. Dies sind alles so Aspekte, wo die Internationale Staatengemeinschaft nicht mit kann oder nicht mit will, weil sie Interessen vertreten. Und weil sie ganz genau wissen, wenn es zu einer Aufarbeitung des Genozids, des Völkermords kommt, muss ein Staat wie die Türkei auch ganz klar ganz oben stehen als Mitunterstützer des IS oder zumindest diejenigen, die es möglich gemacht haben, dass viele Söldner des IS ohne Probleme über die Türkei in die Region Irak und Syrien reisen konnten. Oder dass zum Beispiel auch andere Staaten, Katar, Saudi-Arabien, das sind alles wirtschaftliche Partner von Staaten wie z.B. Deutschland etc. Da werden viele Fragen aufkommen, da werden viele Themen aufkommen, die die Staaten eben nicht haben möchten. Obwohl die EzidInnen auch eine starke Community haben und in vielen Hinsichten hier z.B. in Deutschland der Sprache mächtig sind, wir haben hier sehr viele Anwälte, wir haben hier sehr viele AktivistInnen, viele FreundInnen, die uns unterstützen. Das Thema war im Bundestag, im Petitionsausschuss, im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Jedoch ist da noch viel zu tun. Klar und deutlich, die EzidInnen werden hier nichts geschenkt bekommen. Sie müssen für all die Bereiche, die sie gerne haben möchten, kämpfen. Dass die Täter des Genozids, dass die Hintermänner des Genozids, die entsprechende Strafbarkeit auf internationaler Ebene bekommen, das ist noch ein harter Kampf. Da werden auch viele dagegen halten, damit es nicht zu dieser Aufarbeitung kommt, damit nicht Themen aufkommen, wo sie Probleme mit bekommen. Die Türkei ist ja nicht irgendwer, sie ist NATO-Mitglied, EU-Beitrittskandidat und solche Themen will die internationale Staatengemeinschaft gerade jetzt während der Konflikte zwischen der Ukraine und Russland nicht haben, dass eben ein NATO-Mitglied Blut an den Händen hat. Das ist die Türkei in diesem Fall, Saudi-Arabien als wirtschaftlicher Partner oder Katar.

Abschlussfragen

Şengal ist für die gesamte Region ein Abbild… weil sie trotz des Völkermords, den Mut gefasst haben, sich selbst zu verwalten, sich selbst zu schützen und nicht aufgegeben haben und eine Motivation für diejenigen sind, die heute noch um ihr Leben bangen müssen. Und vor allem weil sie es geschafft haben, sich kurz nach Beginn des Genozids so organisiert zu haben, dass sie den großen Schrecken Islamischer Staat militärisch mit besiegt haben.

Die Aufarbeitung des Genozids beinhaltet… unter anderem eine aufrichtige und ehrliche Aufarbeitung, wie ich auch schon anfangs gesagt habe. Hier müssen nicht nur die Täter, sondern auch die Hintermänner genannt werden, die Staaten, die mitverantwortlich sind. Es ist extrem wichtig, weil die EzidInnen vor dem 2. auf den 3. August 2014 die internationale Staatengemeinschaft darauf aufmerksam gemacht haben, es könnte zu einem Genozid kommen, wozu es auch gekommen ist. Das heisst auch diese Verantwortung muss aufgearbeitet werden, damit es in Zukunft nicht wieder zu militärischen Angriffen auf die ezidische Glaubensgemeinschaft kommt.

Die internationale Staatengemeinschaft muss… in dem Fall klar und deutlich im Sinne der Menschen, im Sinne des Existenzschutzes für die EzidInnen, die EzidInnen in ihren Forderungen und Belangen unterstützen und vor allem müssen sie die EzidInnen auf gleicher Augenhöhe wahrnehmen und nicht zulassen, dass weder die Zentralregierung noch die Regionalregierung als Ansprechpartner genommen werden. Denn die EzidInnen fühlen sich nicht vertreten weder von der Zentralregierung noch von der Regionalregierung. Das heißt die internationale Staatengemeinschaft hat die Verantwortung, Şengal als Autonomie anzuerkennen und vor allem die Verteidigungseinheiten als solche der EzidInnen anzuerkennen.

Die Zukunft der EzidInnen… ist, wenn die EzidInnen gelassen werden zu vollbringen, was sie da aufbauen in Şengal. Sie sind auf einem gutem Weg. Das muss unterstützt werden, nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch wir hier in dem Live Talk und die, die auf die Straße gehen. All diejenigen müssen im Sinne der Mit- und Zwischenmenschlichkeit und vor allem auch in der Verantwortung die EzidInnen unterstützen, damit sie auch ihren Vorhaben und ihren Forderungen nachkommen können.