Sommerinterview-Reihe III
Kurdistan Aktuell III
Im dritten Interview auf Instagram haben wir mit Kassem Taher Saleh, MdB, Bündnis 90 / Die Grünen über die Entwicklungen in der Kurdistan Region des Irak und die deutsche Außenpolitik gesprochen.
Kassem Taher Saleh zog bei den Wahlen im September 2021 für Bündnis 90 / Die Grünen aus Dresden in den Bundestag ein. Er ist Obmann im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen, stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Klima und Energie sowie im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Er wurde in der Kurdistan Region des Irak geboren, wuchs in Deutschland auf und ist Bauingenieur. Vor seinem Mandat war er bereits in zahlreichen Initiativen und Vereinen aktiv, insbesondere im Bereich Flucht.
Einführungsfragen:
Ist der Autonomiestatus der Kurdistan Region des Irak in Bezug auf den Irak gesichert?
Ich glaube schon. Ich meine, sie haben ein eigenes Parlament, einen eigenen Haushalt, sind verfassungsrechtlich von der Zentralregierung geschützt. Klar, der Einfluss vom Zentralirak ist immer noch da, natürlich auch haushalterisch. Aber ich bin schon der Meinung, dass die Autonomieregierung geschützt ist, ja.
Können die internen Differenzen zwischen den unterschiedlichen politischen Spektren zeitnah beigelegt werden?
Das finde ich eher als etwas schwierig. Ich meine, der Irak hatte ja auch letztes Jahr zum 01.10 Wahlen. Sie haben es bis heute nicht geschafft, eine Koalition zu bilden. Das heißt, sie sind überhaupt nicht regierungsfähig. Das zeigt natürlich die angespannte Lage zwischen den Kurdinnen und Kurden und der Zentralregierung in Bagdad. Aber auch innerhalb der kurdischen Region stehen jetzt ab dem 01.10 Wahlen an. Als wir dort waren, gab es eine ganz große Debatte, ob die Wahlen nicht sogar verschoben werden sollen; da einfach die politische Lage instabil war, weil die etwas kleineren Parteien eine Wahlverschiebung wollten, um etwas Zeit zu gewinnen. Von daher, glaube ich wirklich, es ist sehr schwer zu beurteilen. Es gibt Situationen, da zeigt sich die Kompromissbereitschaft untereinander, aber es gibt auch andere Situationen, da kommen leider immer wieder Spannungen auf, die nicht beseitigt werden können.
Haben die Interessen und Interaktionen der Nachbarländer ausschließlich negative Auswirkungen auf die Kurdistan Region des Irak?
Ja und Nein. Alleine wirtschaftlich gesehen, ist Kurdistan angewiesen auf seine Nachbarländer, sei es die Türkei, sei es der Iran. Von daher ist das die positive Seite, die wirtschaftliche Seite. Alles im Bereich Menschenrechte, im Bereich der Humanität, des Klimaschutzes, da gibt es Spannungen, die aktuelle immer noch nicht beseitigt werden können. Daher sind auch diese eine Seite der Medaille, die ich auch nicht so einfach mit ja oder nein beantworten kann.
Können wir von einer Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik sprechen?
Ich finde schon, weil alleine die Kommunikation, die Annalena Baerbock mit sich bringt, als erste Ministerin überhaupt. Das zeigt alleine schon eine große Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik. Ein großer Schwerpunkt unserer Bündnis/Grünen Politik ist ja die feministische Außenpolitik. Gerade im Kontext von Kurdistan, wo Frauenrechte, die Bildung von Frauen, aber auch Empowerment oder auch die Beseitigung der Trauma im Sinjar Gebirge, als der IS dort angegriffen hat, sind schon eine Politik, die wir verfolgen, die natürlich auch für die Region essentiell ist, natürlich auch für die Kurdinnen und Kurden speziell in der Hinsicht.
Sie waren im Juni mit Ihrem Abgeordnetenkollegen Max Lucks und Fırat Yaksan, Landesvorstandsmitglied von Bündnis 90 / Die Grünen in NRW, in der Kurdistan Region des Irak. Wie ist die aktuelle Lage dort, vorrangig natürlich aus politischer Perspektive betrachtet? Doch auch eine ganz persönliche Einschätzung wäre gut, als jemand der dort geboren ist.
Max Lucks, Fırat und ich haben ja wirklich ein breites Spektrum besucht, vor allem von den politischen Ebenen. Wir haben den Präsidenten, den Premierminister, den ehemaligen Außen- und Finanzminister getroffen, aber ganz stark auch die Zivilgesellschaft. Wir haben ein Flüchtlingscamp in der Nähe von Zakho und Duhok besucht. Wir haben von der GIZ geförderte Projekte bzgl. der Abwasserproblematik und der Bekämpfung der Klimakrise besucht. Aber auch in Duhok haben wir eine Vereinigung besucht, die sich im Bereich der Frauenrechte vor Ort stark macht. Von daher hatten wir ein recht breites Spektrum, das wir besucht haben. Die aktuelle politische Lage fand ich extrem angespannt, weil wie gesagt die Koalition im Zentralirak noch nicht stand. Ich meine, dass ist schon fast ein Jahr her. Die Zentralregierung ist ohne eine vernünftige Koalition, ohne eine Regierung. Aber auch die anstehenden Wahlen, die am 01.10 dieses Jahr stattfinden sollen. Da sind auch nochmal Verhandlungen auf dem Tisch, die aktuelle Lage ist politisch schon angespannt. Als wir dort waren, hat der Iran einen Drohnenangriff auf Erbil geschossen, weil einfach der Einfluss des Iran in Bagdad auf die Zentralregierung sehr groß ist, aber auch die Angriffe von der Türkei auf die Gebirge da vor Ort, zeigt einfach, wie krass die Spannungen vor Ort sind. Wir haben auch gesehen, dass die Türkei aktuell plant, einen größeren Staudamm zu bauen, um den Tigris etwas bei sich zu behalten. Das bedeutet natürlich, dass weniger Wasser in die kurdische Region gelingt. Dementsprechend zeigt es auch, wie krass die Klimakrise auch dort vor Ort fortgeschritten ist. Das führt immer wieder zu politischen Spannungen. Auch das ist klar zu benennen. Der Irak ist aktuell das Land, das weltweit am fünft-härtesten von der Klimakrise betroffen ist. Wir hatten alleine bis Juni fünf Sandstürme, die im Irak stattgefunden haben. Das führt natürlich immer wieder zu Instabilität, dementsprechend zu wirtschaftlicher Instabilität, dementsprechend zu immer weniger Perspektiven von ausländischen Investoren. Daher stockt auch der Fortschritt, da die Instabilität dort sehr ausgeprägt ist in mehreren Sektoren und nicht nur in einem Bereich, worauf man sich konzentrieren kann und die eventuell auch beseitigen kann.
Das deckt schon ein wenig die nächste Frage mit ab. Sie haben sich mit unterschiedlichen politischen Spektren, aber auch mit anderen Organisationen vor Ort getroffen. Wie sind denn in der Kurdistan Region des Irak die Auswirkungen der unbesetzten Zentralregierung in Bagdad, aber auch unabhängig davon, wie sieht es in der Region selbst politisch aus? Da gibt es auch unterschiedliche politische Spektren, die mal mehr, mal weniger miteinander zurecht kommen. Was war zumindest der Eindruck? Sind sie sich in globalen Themen, zum Beispiel die erwähnte Klimakrise, einig oder ist es auch dort, wie in einigen Bereichen eher divergent?
Vielleicht nochmal als Überblick und Erläuterung. Das Parlament in Erbil hat 111 Sitze. 45 Sitze hat die Demokratische Partei Kurdistans, das ist die größte Partei, die regieren in einer Koalit mit der PUK und den Gorans. Die Gorans haben nur zwölf Sitze, die PUK hat 21 Sitze, auch eine Dreier-Konstellation, eine Dreier-Koalition wie wir sie auch in Berlin haben, in Deutschland. Sie haben tatsächlich auch eine verpflichtende Frauenquote von 30 Prozent. Diese ist auch festgeschrieben. Die ist aktuell höher, mit 39 Abgeordneten ist die Frauenquote bei 35 Prozent. Wir im deutschen Bundestag in der aktuellen Legislatur haben eine Frauenquote von 31 Prozent. Das heißt tatsächlich, dass das Parlament in Erbil, das kurdische, weiter als wir ist. Zudem, was ich extrem überraschend fand, haben sie eine Minderheitenquote. 11 Sitze von den gesamten 111 Sitzen sind für Minderheiten festgeschrieben. Das sind einerseits die Turkmenen, die assyrisch-aramäische, die armenische Gruppe. Ich fand wirklich auch extrem spannend zu beobachten, wie stark das Parlament, das natürlich auch verfassungsrechtlich so verankert ist, auch die Minderheiten und die Frauen einschließt. Nichts desto trotz wollen wir eine Frauenquote von 50 Prozent. Ich glaube, da sind wir uns in der Runde erst einmal einig, weil wir 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Und ich glaube, wenn representative Akteure in den jeweiligen Parlamenten sitzen und dementsprechend auch Entscheidungen treffen, kann auch die Entscheidung gut sein für die gesamte Bevölkerung. Nichts desto trotz sind einfach die Kurdinnen und Kurden in Erbil weiter als wir in Deutschland, im deutschen Bundestag. Und das hat mich wirklich überrascht.
Sie sind in Zakho geboren. Hier kam es kürzlich zu einem Bombenangriff der Türkei, bei dem zahlreiche Touristen getötet und verletzt wurden. Warum wurde Zakho, ein Touristengebiet, als Ziel ausgewählt?
Zunächst einmal, als ich die Nachrichten gesehen habe, hat mich das extrem verletzt, dass in der Nähe von meinem Geburtsort, wo ich auch aufgewachsen bin, Menschen ermordet worden sind. Es ist immer so, dass die Zivilisten, die am wenigsten dafür können, die ersten sind, die davon betroffen sind. Das darf nicht sein. Das muss extrem verurteilt werden. Das haben wir auch durch unsere Außenministerin so klar kommuniziert. Nichts desto trotz war die Begründung der Türkei, dass sie in den Teilen des Iraks ja die PKK und ihre Region angegriffen haben. Ich meine mit einem Bombenangriff, mit Krieg kommt man nie zu einer Lösung. Es sterben nicht nur Menschen, es werden Infrastrukturen verletzt, die man Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte wieder aufbauen muss. Nichts desto trotz werden Wälder, Bäume, wie gesagt einfach der Boden zerstört. Das heißt auch der Kampf gegen den Klimawandel, die Klimakrise schaltet da immer wieder zurück. Der Angriff ist extrem zu verurteilen. Der Bürgermeister vor Ort aus Zakho sagte, dass das Dorf bisher zweimal bombardiert wurde von der Türkei, und das darf nicht sein. Das verurteilen wir, da müssen wir auch ran, dass wir da die klarere Kommunikation gegenüber der Türkei auch zeigen, dass es nicht der richtige Weg ist, um gegen die PKK dort vorzugehen.
Welche Potentiale hat die Kurdistan Region des Irak und wie können diese genutzt und gefördert werden?
Die Potentiale sind wirklich riesig und extrem. Ich glaube auch das Potential der Landwirtschaft kann dort ein Fortschritt sein. Wenn sie Investitionen in die Landwirtschaft betreiben, dann hat das mehrere positive Querfaktoren. Einerseits kann man die großen Großstädte entzerren und den ländlichen Raum wieder attraktiver machen. Dementsprechend schafft man es dazu, dass die Wertschöpfung nicht nur in den Großstädten, sondern in der gesamten Region auch hinzukommt. Wenn die Wertschöpfung auf der gesamten Fläche vorhanden ist, kann es auch dazu führen, dass man eben auch aufgrund des Potentials der Landwirtschaft die Wirtschaft fördert, die Wirtschaft ankurbelt, die Infrastruktur verbessert, dementsprechend hat die gesamte Gesellschaft etwas davon. Und man schafft es dazu, die Perspektive der Jugendlichen, also ihnen etwas zu bieten und sie auch zu fördern. Ich habe dort nicht nur Familie, sondern habe dort studierende Menschen kennengelernt, die gekellnert haben, die an Tankstellen gearbeitet haben, die als Taxifahrer gearbeitet haben, weil die Perspektive fehlt. Flächendeckend fehlt natürlich auch die Gesundheitsversorgung. Von daher glaube ich einfach, dass, wenn wir die Potentiale in die Landwirtschaft stecken und das in der gesamten Fläche in Kurdistan, dann profitieren mehrere. Ein anderer Punkt ist natürlich der Ausbau des ÖPNV. Die Städte und auch die gesamte Region ist total Auto-zentriert. Wenn wir auch dort die Klimakrise angehen wollen, und zwar ernsthaft, dann müssen dort schnell Konzepte umgesetzt werden. Da stehen wir auf der deutschen Seite auch bereit. Wir haben hier die Kompetenten, wir haben das Know-how, die Technologie. Da kann die kurdische Regierung und die gesamte Region auch auf uns zählen, dass wir sie da unterstützen. Ich glaube auch der Tourismus ist da nicht zu vergessen. Es ist eine wunderschöne Region mit tollen Wasserfällen, mit unheimlichen Panoramabildern, die man dort schaffen kann. Es fehlt leider die touristische Infrastruktur, um dort den Tourismus anzukurbeln und die Wirtschaft in die gesamte Breite zu bringen. Ich meine, es hat natürlich auch einen anderen Effekt. Wenn man den Jugendlichen und der Bevölkerung vor Ort eine Perspektive bietet, kommt man auch dazu, dass man due Fluchtbewegungen in der Region etwas eindämmt. Daher bin ich natürlich etwas besorgt, dass der private Wirtschaftssektor noch nicht so vorangeschritten ist, wir es eigentlich hätte sein sollen, weil einfach der öffentliche Sektor extrem groß ist. Es braucht Start-up’s, Innovation, Technologie. Natürlich ist das Fundament, das A&O die politische Stabilität. Weil nur wenn eine Region politisch stabil ist, kann ich ausländische InvestorInnen dahin locken in die Region, Kapital in die Region bringen und dementsprechend auch die Wirtschaft vor Ort ankurbeln. Daher hat die Region extrem großes Potential, und sie muss jetzt wegkommen davon, nur auf Erdöl und natürlich Benzin usw zu setzen. Die Region hat mehr Potentiale. Von daher let’s go würde ich sagen. Die Konzepte stehen soweit, aber leider scheitert es immer noch an der Umsetzung.
Die deutsche Außenministerin hat sich bei ihrem Türkeibesuch deutlich auch in Bezug auf eine erneute Offensive der Türkei in Nordsyrien positioniert, neben klaren Worten im Fall des inhaftierten Kulturförderers Osman Kavala. Wie ist das im Hinblick auf die künftige Außenpolitik in Bezug auf die Türkei bzw. die Region zu werten?
Das ist eine der besten Beispiele, das zeigt, was wir mit der feministischen Außenpolitik auch meinen. Was eben eine deutsche Außenministerin, und zwar das ist wie gesagt die erste deutsche Außenministerin überhaupt, auch leisten kann mit ihrer klaren Sprache gegen so einen teils diktatorischen autokratischen Staat, der immer wieder durch Menschenrechtsverletzungen auffällig wird, dennoch aber immer noch die diplomatische Hand reicht. Die Türkei ist ein wichtiger Partner für die EU, natürlich auch für den globalen Frieden, sei es die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, sei es natürlich auch ihre Lage und ihr Einfluss auf bestimmte Gebiete. Wie gesagt, ich bin einfach extrem froh, dass wir mit Annalena Baerbock eine so starke Frau an unserer Spitze haben, die ja auch, wenn es sein muss, klare Worte und klare Kante zeigt gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen, am meisten sind es ja die Außenminister.
Eine starke Kurdistan Region des Irak ist notwendig, weil … das irakische Volk einen Ort benötigt, um autonom leben zu können, wo sie ihre Sprache und Kultur frei ausleben können.
Frieden in der Region erfordert, … eine nachhaltige Entwicklung, und zwar in mehreren Bereichen, sei es in der Diplomatie, sei es aber auch in der Wirtschaft, wo man auch die Perspektiven der Jungen stärkt. Frieden in der Region bedeutet aber auch Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, der Gräueltaten, sei es die Genozide im Şengal Gebirge durch den Islamischen Staat oder aber auch Halabja, der Genozid in Halabja. Das ist auch ein Friedensprozess, der dazu gehört, die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben.
Deutsche Außenpolitik kann … Die deutsche Außenpolitik und wir auch als deutsche Bundesregierung können mit Rat und Tat zur Seite stehen. Deutschland kann aber auch, das haben wir auch gesehen, Max Lucks, Fırat und ich, natürlich auch durch finanzielle Hilfe vor Ort präsent sein, sei es eben Projekte, wo wir die Klimakrise angehen, sei es aber auch, wo wir die erneuerbaren Energien ausbauen, speziell die Fotovoltaikanlagen, die Solardächer, sei es aber auch Projekte der Geflüchtetenpolitik, wo wir Geflüchtetencamps finanziell mitunterstützen, aber auch die Gesundheitsversorgung, Krankenhäuser aufbauen, speziell auch im Bereich der Frauenrechte und Kinderrechte auch vor Ort präsent sind. Ich glaube, da gibt es viel Unterstützung, die wir ihnen von der deutschen Seite und auch von der deutschen Regierung geben können.